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Die Festung Europa 2.0: Smarte Abschottung und Überwachung - Digitalpolitischer Sommerabend
Europa schottet sich ab – und zwar mit modernster digitaler Technologie. An diesem digitalpolitischen Sommerabend haben wir uns in verschiedenen Beiträgen den Entwicklungen digitalisierter Migrationskontrollle gewidmet. Um ein Zeichen gegen die menschenverachtenden Tendenzen zu setzen, waren auch Leipziger Initiativen eingeladen, die sich für Bewegungsfreiheit und die Rechte Geflüchteter einsetzen
24.07.2025 Leo
Nachdem sich der Raum schnell gefüllt hatte und über 70 Personen im Pöge Haus Leipzig zusammengekommen waren, eröffnete Sven von Brot für die Welt den Abend mit einleitenden Worten und einer kritischen Perspektive: Während sich die EU im Gegensatz zu Konzernen wie Google, Meta und anderen BigTech-Unternehmen als menschenrechtsorientierte Alternative darstelle, solle im Verlauf des Abends gemeinsam hinterfragt werden, wie sehr sie diesem Anspruch gerecht würde.
Matthias Monroy: Mit dem Smartphone auf der Flucht
Den ersten Beitrag des Abends lieferte Matthias Monroy – Redakteur bei nd , ehemaliger Autor bei netzpolitig.org und Autor der Studie Mit dem Smartphone auf der Flucht. In seiner Studie gehe es darum, die Wege Geflüchteter mithilfe ihrer Smartphones nachzuvollziehen. Da sich Mobiltelefone bei der Nutzung automatisch in Funkzellen einbuchen, hinterließen sie digitale Spuren. Viele Mobilfunkanbieter gäben diese zunächst nicht personenbezogenen Daten weiter. Je nach Land könnten sich Regierungen allerdings auch Zugang zu personenbezogenen Daten verschaffen.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, nutze solche Daten, um Lageberichte über Migrationsbewegungen zu erstellen. An sich sei das nicht verwerflich, so Matthias, problematisch werde es jedoch, wenn diese Informationen auch zur Migrationsabwehr durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex eingesetzt würden.
Frontex greife nicht nur auf von Providern bereitgestellte Daten zurück, sondern betreibe auch eigene Luftaufklärung. Mithilfe speziell ausgerüsteter Flugzeuge sei die Agentur in der Lage, Mobiltelefone über dem Mittelmeer zu orten. Das Smartphone werde so zum digitalen Bewegungsmelder bei Nacht oder schlechter Sicht. Ziel sei es, Boote bereits beim Ablegen in nordafrikanischen Häfen zu lokalisieren und dies den dortigen Behörden zu melden, damit diese die Boote zurückholen könnten. So sollten illegale Pushbacks umgangen werden. Monroy betonte jedoch, dass diese Praxis de facto dennoch als Pushback gewertet werden könne. Zunehmend werde diese Ortung auch satellitengestützt durchgeführt. Darüber hinaus sei Frontex an Forschungsprojekten beteiligt, die die Überwachung in die Stratosphäre verlagern wollten. Ein Beispiel sei das sogenannte Fold-Out Project – sinngemäß „Entlaubung“ – bei dem mithilfe verschiedenster Sensorik Migrationsbewegungen in bewaldeten Regionen erkannt werden sollten.
Auch Europol beteilige sich an der digitalen Migrationskontrolle und -abwehr. Die eigens eingerichtete Meldestelle, ursprünglich zur Terrorismusbekämpfung gegründet, verfolge inzwischen auch das Ziel, Informationen über Fluchtrouten im Internet zu entfernen. So würden beispielsweise Facebook-Gruppen gelöscht, in denen Schleusungen angeboten würden. Matthias wies darauf hin, dass man solche Angebote nicht gutheißen müsse, sie jedoch oftmals die einzige Möglichkeit seien, um überhaupt nach Europa zu gelangen, da legale Fluchtwege praktisch nicht existierten.
Das Smartphone werde jedoch nicht nur zur Überwachung eingesetzt, sondern vielerorts auch gezielt zerstört. Besonders entlang der Balkanroute berichteten Geflüchtete regelmäßig, dass ihre Geräte von Behörden beschädigt worden seien, obwohl das Smartphone für viele der wichtigste Gegenstand auf der Flucht sei.
Auch in Deutschland komme das Mobiltelefon in der Migrationsabwehr zum Einsatz: An den Grenzen würden Geräte häufig ausgelesen, um mögliche Schleuser ausfindig zu machen. Das könne zum Beispiel der Fall sein, wenn eine bestimmte Nummer von mehreren Flüchtenden häufig angerufen worden sei. Matthias führt aus, dass es neben der problematischen Missachtung der Privatsphäre dabei aber oft unklar sei, ob es sich tatsächlich um Schleusung oder bloß um unterstützende Hilfe handle. Zum Abschluss seines Vortrags warf Matthias einen Blick in die Zukunft: Reiseanmeldungen per App und kontaktlose Grenzübertritte per Smartphone seien bereits in Entwicklung. Besonders drastisch sei die Situation in den USA, wo die App CBP One inzwischen zur Selbst-Abschiebung umfunktioniert worden sei. Migrant*innen könnten damit die Inhaftierung umgehen, indem sie ihre Rückführung eigenständig beantragten.
Technisierte Unmenschlichkeit: Anna Biselli zur digitalen Kontrolle im Asylsystem
Im zweiten Vortrag sprach Anna Biselli, Co-Chefredakteurin bei netzpolitig.org und Netzaktivistin, unter dem Titel „Technisierte Unmenschlichkeit: Digitalisierte Migrationskontrolle an sichtbaren und unsichtbaren Grenzen“.
Anna verdeutlichte zunächst, dass digitalisierte Migrationskontrolle an sehr verschiedenen Orten stattfinde. An den europäischen Außengrenzen würden mithilfe modernster Technologien vor allem die Grenzen überwacht. Verschiedenste Datensammlungen in Deutschland und der EU kontrollierten Migration, indem sie personenbezogene Daten für verschiedene Behörden zugänglich machten. Die bekannteste Datensammlung sei Eurodac, in der Fingerabdrücke und Bilder von Geflüchteten gespeichert würden. Ein weiterer Ort der technisierten Migrationskontrolle seien Lager an den Außengrenzen, die wenig Aufmerksamkeit erhielten und als Testfelder für neue Überwachungstechniken dienten.
Seit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2016 für seine langsamen Verfahren kritisiert worden sei, seien zahlreiche digitale Systeme eingeführt worden. Eines davon sei die Dialekterkennung, ein automatisiertes Verfahren zur Erkennung sprachlicher Abweichungen. Diese Technologie habe besonders in der Anfangszeit aufgrund unterschiedlicher Fehlerraten je nach Sprache und unplausibler Ergebnisse starke Kritik erfahren. Teilweise seien zudem Asylanträge auf dieser Grundlage fälschlich abgelehnt worden.
Auch das Auslesen mobiler Datenträger, meist Smartphones, sei inzwischen gängige Praxis – etwa um Herkunftsländer zu ermitteln. Dabei würden statistische Daten wie Anrufziele, aber auch Social-Media-Accounts oder Google-Zugänge ausgewertet. Anna hat dabei klargemacht: Das sei ein massiver Eingriff in die Privatsphäre, dessen tatsächlicher Nutzen äußerst begrenzt sei.
Auch die Ausländerbehörden griffen auf forensische Software zurück, um Geräte – insbesondere von Geduldeten – zu durchsuchen. Ziel sei es oft, Informationen über Herkunftsländer zu gewinnen, um Abschiebungen zu ermöglichen. Diese Praxis sei in Deutschland uneinheitlich geregelt und für Betroffene häufig undurchsichtig. Oft wüssten sie nicht, zu welchem Zweck und in welchem Umfang ihre Geräte durchleuchtet würden.
Im Anschluss ging Anna auf das Ausländerzentralregister als eine der größten und ältesten Datensammlungen in Deutschland ein. Dort seien mehr als 26 Millionen Datensätze von Menschen gespeichert, die sich langfristig in Deutschland aufhielten. Neben Namen und Adressen seien bei Geflüchteten auch Angaben zu Sprachkursen, Impfstatus, Sozialleistungen und sogar komplette Asylentscheidungen hinterlegt. Das Register sei in den vergangenen Jahren mehrfach erweitert worden – sowohl hinsichtlich der gespeicherten Inhalte als auch der Zugriffsberechtigten.
In einer abschließenden Reflexion stellte Anna die Frage, ob der Einsatz digitaler Werkzeuge in der Migrationsverwaltung grundsätzlich problematisch sei. Ihre Antwort: nicht zwangsläufig – aber in der Praxis meist doch. Die Systeme seien häufig fehleranfällig, intransparent und schwer nachvollziehbar. Dies untergrabe die Möglichkeit zu fairen Entscheidungen. Zudem würden Datenbanken kontinuierlich ausgeweitet, was das ohnehin hohe Risiko von Missbrauch noch weiter erhöhe.
Schließlich stellte sie abschließende Grundsatzfragen in den Raum: Wollen wir wirklich, dass bei hochsensiblen Verfahren wie Asylentscheidungen derart automatisiert vorgegangen wird? Und: Dienen diese Technologien am Ende vor allem dazu, Migration zu verhindern und Menschen abzuschrecken? Ihr Appell: Wir sollten genauer hinsehen und digitale Kontrolle im Migrationskontext stärker in den öffentlichen Fokus rücken.
Was tun? Schließt euch der Karawane für Bewegungsfreiheit an!
Im Anschluss an die beiden Vorträge hat sich noch die Leipziger Initiative We’ll come united! mit ihrem Projekt der Karawane für Bewegungsfreiheit vorgestellt. Die Initiative vereint geflüchtete, migrantische und solidarische Menschen und setzt sich bundesweit für die Rechte Geflüchteter und für Bewegungsfreiheit ein. Anlässlich des Jubiläums 10 Jahre Sommer der Migration plant das bundesweite Netzwerk eine Karawane für Bewegungsfreiheit durch ostdeutsche Bundesländer. Der Sommer der Migration war eine beharrliche Migrationsbewegung im Sommer 2015, die das Begehren nach offenen Grenzen, sowie das Recht auf Flucht und Migration in die europäischen Gesellschaften trug. Während in diesem Sommer Grenzöffnungen Wirklichkeit wurden und viele Menschen sich solidarisch für ein gutes Ankommen der Geflüchteten zeigten, sind seitdem zahlreiche Entwicklungen zum Ausbau der Festung Europa zu beobachten.
Die Karawane für Bewegungsfreiheit findet vom 20.-27.9. statt und endet in Berlin mit einer großen Abschlussparade. Das Netzwerk möchte damit auf die rassistischen Entwicklungen in Deutschland und der EU aufmerksam machen und ein starkes, gemeinsames Zeichen dagegensetzen. Die Karawane fordert unter anderem den Stop von Abschiebungen, ein Ende rassistischer Politik, ein Ende der menschenunwürdigen Unterbringung in Lagern für Asylbewerberinnen und gleiche Rechte für alle. Sie antwortet damit außerdem auf ein sich zuspitzendes Klima von rechtem Hass und Gewalt gegen Migrantinnen und rassistische Migrationspolitiken in Deutschland und der EU.
Nachdem wir im ersten Teil der Veranstaltung die vielen rassistischen Praktiken zur digitalisierten Migrationskontrolle beleuchtet haben, bringt die Karawane noch ein wenig Hoffnung in die düsteren Aussichten. Denn dort, wo Hass und Hetze zunehmend den Diskurs und die Politik bestimmten, dort formiert sich auch Protest und Solidarität. Vielleicht sehen wir uns ja im September auf der Straße. ;)
Hinweis: Die aufgezeichneten Vorträge von Matthias und Anna findet ihr hier